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“Weil Sichtbarkeit das Wichtigste ist”: Wir erkunden zusammen mit unserer Guest Editor Kemi Fatoba in Videos, Fotostrecken und Artikeln, wie Menschen mit Rassismuserfahrungen Deutschland erleben. Zu allen weiteren Artikeln geht es hier.

Laut einem Artikel der New York Times belegen zahlreiche Studien, dass People of Color seltener die richtigen Medikamente erhalten und ihre Dosierungen oft sehr schwach sind, da angenommen wird, dass sie eine höhere Schmerztoleranz als weiße Menschen haben. Schwarze schwangere Frauen in den USA haben eine höhere Sterblichkeitsrate als schwangere weiße Frauen und im Bereich Psychologie werden People of Color häufiger negative Stereotypen zugeschrieben. Obwohl Rassismus und Diskriminierung natürlich auch in Deutschland ein Thema ist, sie die Auswirkungen auf Ärzte hier mehr im Blickfeld als auf die Patienten. Zwar ist das Thema genauso wichtig, die Machtverhältnisse sind jedoch anders.

Zu wissen, dass man die Existenz von Diskriminierungserfahrungen, Othering oder Mikroaggressionen in der weißen Mehrheitsgesellschaft nicht erklären muss, kann es Ratsuchenden erheblich erleichtern, über ihre Sorgen zu sprechen. Da aber in deutschen Volkszählungen nicht nach Ethnizität oder Race gefragt wird, ist weder bekannt, wieviele Deutsche of Color es tatsächlich gibt, noch wieviele von ihnen Therapieplätze benötigen. Es ist aber anzunehmen, dass der Therapeutenpool sehr klein ist – und abgesehen davon muss ja auch das Spezialgebiet und vor allem die Chemie stimmen. Dinge wie eine ähnliche Herkunft, Rassismuserfahrungen oder der geteilte Kulturkreis können zwar vieles erleichtern, sagen jedoch bei Therapeuten of Color genauso wenig über die tatsächliche Qualität der Therapie aus, wie bei ihren weißen Kollegen.

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Wir haben uns daher mit zwei in Berlin ansässigen Schwarzen Psychologen über ihre Erfahrungen unterhalten, wenn es um Repräsentation im Bereich Mental Health geht und warum es einen Unterschied macht, wenn Therapeuten die Lebensrealität ihrer Klienten nicht nur in der Theorie, sondern auch aufgrund von gelebten Erfahrungen verstehen.

Warum haben Sie sich entschieden, Therapeuten zu werden?

Eben Louw: Die Entscheidung ist durch eine Reihe von Zufällen entstanden. Erst viel später habe ich mich dafür interessiert, welche psychischen Folgen Rassismus haben kann. Im Gesundheitssystem sind Rassismus-Betroffenen darauf angewiesen, dass sie vorurteilsfrei behandelt werden, sodass keine Missverständnisse oder Fehler auftreten – wenn das nicht der Fall ist, könnte es lebensbedrohliche Folgen haben. Das war für mich der ausschlaggebende Moment. Es war nicht nur “Racism kills”, sondern dass Menschen auf eine sehr banale Art und Weise sterben können, weil Vorurteile und Rassismus ihre Behandlung beeinflussen.

Stephanie Cuff: Als ich nach Berlin kam, war ich als Schwarze Psychologin zunächst immer die Ausnahme, was ich aber erstmal nicht bewusst in Frage stellte, da ich es schlichtweg nie anders kennengelernt hatte. Da war wirklich null Repräsentation. Weder im Studium, noch in unzähligen Praktika bin ich jemals mit Psycholog*innen oder Therapeut*innen of Color in Berührung gekommen und es gab auch nie Raum, dies zu thematisieren. Ich erlebe jetzt oft, dass Klient*innen es als Erleichterung empfinden, wenn da jemand ist, der einen erheblichen Teil der Lebensrealität als Person of Color bzw. Schwarze Person in einer vornehmlich weißen Gesellschaft kennt.

Wie steht es um Repräsentation, wenn es um Therapeuten in Berlin geht?

Eben Louw: Wir bekommen sehr viele Anfragen und müssen leider sehr viele Menschen enttäuschen. In den Instituten, wo psychotherapeutische Ausbildung stattfindet, gibt es nur sehr wenige People of Color und häufig nur einen Schwarzen Menschen pro Jahrgang. Ich habe das Gefühl, dass die Möglichkeiten für Diskriminierung bei der Zulassung zur Ausbildung für Psycholog*innen of Color enorm sind. Der Prozess ist nicht transparent und wird auch nicht ausreichend reguliert. In anderen Berufsfeldern gibt es Regelungen, um Diskriminierung einzudämmen aber bei dem Zugang zur psychotherapeutischen Ausbildung ist es sehr willkürlich.

Was halten Sie in Bezug auf Ihre Arbeit von dem Konzept der Farbenblindheit, wenn also jemand sagt, dass Hautfarbe keine Rolle spielt und alle Menschen gleich sind?

Stephanie Cuff: Im ersten Moment verstehe ich die Idee, denn es hört sich nach einer heilen Welt und einem ehrenwerten Motiv an. Implizit steckt aber eine andere Botschaft dahinter, nämlich dass wirklich existierende Lebensrealitäten nicht ernst genommen und marginalisiert werden und deswegen arbeiten wir hier nicht mit diesem Konzept.

Eben Louw: “Race doesn’t exist, but it matters”. Die Hautfarbe oder vermeintliche Herkunft, dort wo die weiße Gesellschaft mich zuschreibt, das muss ich ernst nehmen, weil das Aufschluss darüber gibt, was ich erlebe. Es geht nicht darum, Menschen zu bevorzugen, jeder muss eigentlich nur gesehen werden in seiner Lage. Wir haben häufig das Problem, dass Angehörige von Gewaltopfern an Farbenblindheit glauben. Der traumatische Vorfall war dann in ihren Augen nur ein Zufall, der jedem hätte passieren können. Farbenblindheit ist kontraproduktiv.

Welche Auswirkungen haben Rassismus und Xenophobie auf die Psyche – etwa bei Menschen, die aktivistisch tätig sind?

Eben Louw: Manche Leute bekommen erst durch die rassistische Gewalt, die sie erleben, einen Zugang zum Aktivismus. Sie haben Rassismus vorher nie als Problem erlebt. Diese Menschen sehen Aktivismus dann als eine Art der Bewältigung, gehen auf Demonstrationen und starten bestimmte Initiativen und Projekte. Andere vermeiden es total, mit Schwarzen oder People of Color zu tun zu haben, weil sie eine Zielgruppe für rassistische Gewalt sind. Sie ziehen sich lieber zurück und das ist deren Bewältigungsstrategie. Es ist bekannt, dass Rassismus und Mikroaggressionen nicht nur psychische sondern auch körperliche Folgen haben. Wie auch bei anderen Formen von Diskriminierung bedeutet Rassismus einen Angriff auf den Selbstwert, weil man von den Tätern oder der Gesellschaft durch strukturellen und institutionellen Rassismus konstant entwertet wird. Manche Leute können in diesem Bereich Probleme entwickeln.

Was können Opfer von Rassismus und anderen Formen der Diskriminierung erwarten, wenn sie zu Ihnen kommen?

Eben Louw: Die Person kann erwarten, dass sie ernst genommen wird in den Viktimisierungsprozessen, die sie durchgemacht hat und dass wir alles tun, um Sekundärviktimisierung zu vermeiden. “Reviktimisierung” bedeutet, dass mir etwas passiert ist und mein unmittelbares Umfeld und die Menschen, die mir helfen sollen, komische Dinge zu mir sagen. Sie nehmen mich nicht ernst, bagatellisieren meine Erlebnisse und ich werde dann zum zweiten Mal zum Opfer. Deutschland ist ein Land, wo ein großer Teil der Gesellschaft die naive Idee im Kopf hat, dass es Rassismus nicht gibt. Leute sagen dann Dinge wie “Das kann doch nicht wahr sein, in Berlin kann es doch keine Nazis geben, die Menschen schlagen”. Aus diesem Grund gibt es im Gesundheitssystem und im Hilfesystem überall Fallen für Sekundärviktimisierung und wir versuchen, dass das bei Opra nicht passiert. Niemand wird hier erleben, dass ihm nicht geglaubt wird.

Zusätzlich zur Opferberatung helfen wir auch bei der Identitätsentwicklung. Manche Leute wissen z.B. nicht dass sie Schwarz sind, sondern verstehen es erst, wenn sie angegriffen werden. Diese Menschen haben dann ein Problem, weil sie plötzlich überall im Alltag Rassismus sehen. Was früher nur nervig war oder gar nicht wahrgenommen wurde – Forscher bezeichnen das als “Mikroaggressionen” – bekommt dann plötzlich eine neue Bedeutung, weil es an den Vorfall oder an traumatische Ereignisse erinnert. Davor wussten diese Menschen vielleicht wegen ihrer Biographie, oder wie sie erzogen wurden, oder weil ihre Eltern sie geschützt haben, nicht was Rassismus war – und jetzt haben sie ein Problem. Sie haben etwas schreckliches erlebt und haben noch dazu mit einer Identitätsentwicklung zu kämpfen. Auch dabei unterstützen wir – wenn es gewollt ist.

Welche Ressourcen gibt es, um Therapeuten of Color zu finden?

Stephanie Cuff: Es gibt einige Facebook-Gruppen und E-Mail Verteiler, in denen Erfahrungen und solche Ressourcen selbstorganisiert durch (B)PoC geteilt und gespeichert werden. Aber leider fehlt vielen Personen das Wissen über oder der Zugang zu derartigen Ressourcen. Meiner Ansicht nach gibt es einen sehr großen Bedarf an Vernetzungsmöglichkeiten und hilfreichen Adressen, der bislang nicht abgedeckt wird. Zumindest in Berlin gibt es Institutionen und Initiativen wie Afropolitan, EOTO, MyUrbanology und andere, die sich bemühen, Therapeut*innen of Color zu rekrutieren um z.B. Empowerment-Gruppen und Workshops zu machen.

Eben Louw: Was jetzt im Internet passiert, ist ja auch eine Art Word of Mouth aber generell sind die Ressourcen eher dezentralisiert. Reach Out, EOTO, die ISD, und der Migrationsrat in Berlin sind z.B. größere Player, die in dieser Hinsicht gut organisiert sind.

In Zusammenhang mit Mental Health wird sehr oft von “Self Care” gesprochen. Welche “Self-Care-Tipps” haben Sie für Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind?

Eben Louw: Choose your battles wisely! Bei rassifizierten Menschen wird häufig von der Umgebung erwünscht, dass sie ihre Existenz erklären. Der Fokus im Alltag sollte auf Selbstschutz liegen und nicht darauf, für meine Umgebung Antirassismusarbeit zu leisten, weil es ohnehin oft nicht gewollt ist. Man sollte nur mit den Menschen streiten, die einem auch wichtig sind. Die andere Sache ist, sich von Fremdvalidierung zu befreien, d.h. dass ich nicht von einer weißenMehrheit erwarte, dass sie mich akzeptiert und mir die Botschaft gibt, dass ich okay bin so wie ich bin. Dass ich das also mit meiner Community ausmache oder mit mir selber. Selbstvalidierung ist für Betroffene von Rassismus total wichtig.

Bei Aktivisten, die sich stark mit Rassismus und Diskriminierung auseinandersetzen, besteht auch das Risiko der Self-Inoculation, also dass man sich immer wieder mit traumatischen Erlebnissen rund um Rassismus auseinandersetzt. Dadurch kann es passieren, dass man sekundär traumatisiert wird und eine kollektive Belastung erfährt. Wenn man sich das selbst immer wieder antut weil man sich Dinge wie Police Shootings ständig im Internet ansieht, erlebt mach die Welt dadurch noch bedrohlicher, als sie für Schwarze Menschen und für People of Color ohnehin ist. Als Aktivist kann ich hier Verantwortung übernehmen und mein Leben auch mit schönen Dingen füllen, damit ich auch meine eigenen “Safe Spaces” kreiere.

Welche Erlebnisse sind Ihnen als Therapeuten besonders positiv in Erinnerung geblieben?

Stephanie Cuff: Ich erinnere mich gerne an meinen ersten Fall bei Opra zurück. Eine junge Frau of Color mit einer weißen deutsche Mutter und einem Schwarzen Vater hat mit ihrer Identität gerungen. Sie war in der Schwarzen Community aktiv und wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, dass sie von Weißen so viel Rassismus erlebte und trotzdem einen weißen Partner gewählt hat. Wir haben über die Identität von Afrodeutschen gesprochen, wo ja ganz viele ein weißes Elternteil haben und dass in dem Moment, wo man versucht, das zu unterdrücken, man auch einen wesentlichen Anteil von sich selbst nicht mehr leben lässt. Natürlich wirst du von einer weißen Mehrheitsgesellschaft und dann noch von deiner weißen Familie geprägt – in deinen Werthaltungen, in deinem Benehmen etc. – und das gehört genauso dazu wie wie das Schwarzsein und der Prozess des Schwarzseins. Darüber haben wir uns sehr oft unterhalten und das war eine sehr schöne Begegnung weil ich gemerkt habe, dass sie sehr gestärkt herausgegangen ist und gemerkt hat, dass sie sich keinen Regeln unterwerfen muss.

Eben Louw: Das schönste Erlebnis war mit einem meiner ersten Ratsuchenden, der über einem Zeitraum von 2 Jahren an einer Gruppentherapie teilnahm. Ein junger Mann aus einem westafrikanischen Land, der in Ausbildung war und mit Alltagsrassismus schwer umgehen konnte, kam nach einem Angriff zu uns, weil er lernen wollte, damit besser umzugehen. Nach einiger Zeit hat er in der Gruppe von einem Erlebnis erzählt, wo er mit seiner weißen Freundin in der U-Bahn war und ihn ein weißer Mann rassistisch beleidigt hat. Er ist gar nicht darauf eingegangen, sondern hat dem Mann nur gesagt: “Berlin ist mein zuhause und ich fühle mich hier wohl. Ich habe heute einen schönen Tag und lasse ihn mir von dir nicht versauen. Wenn dir das nicht passt, dann geh doch woanders hin.” Dann hat er dem Mann den Rücken zugedreht und ist weggegangen, ohne sich auf einen Konflikt einzulassen. Er hat dann erzählt, dass die anderen Fahrgäste diesem Mann ebenfalls gesagt haben, dass er woanders hingehen soll. Einige haben auch applaudiert. Für ihn war das ein Erfolgserlebnis – und auch für mich weil ich gemerkt habe, dass eine Rassismus-sensible Beratung und Therapie total dabei hilft, wie man mit Alltagsrassismus umgeht. Dass man sich wehren kann ohne dass es einen währenddessen oder danach belastet. Es hat mir auch das Gefühl gegeben, dass es etwas bringt, sich als Therapeut damit zu beschäftigen.

Eben Louw, (MSc. Psychologe, HP. Psych) ist Heilpraktiker für Psychotherapie, Systemischer Therapeut (SG), BSc (hons.) Psychology, MSc Health Psychology, Dipl. Med. Tech. Er ist seit 2008 als Psychologe in der Beratungsstelle “Opra” für Opfer rechtsextremer, rassistischer und antisemitischer Gewalt tätig.

Stephanie Cuff, (Dipl. Psych.) ist seit 2016 als Psychologin in der Beratungsstelle “Opra” für Opfer rechtsextremer, rassistischer und antisemitischer Gewalt tätig. Sie betreibt außerdem die Plattform My Urbanology, die sich zum Ziel gesetzt hat, Schwarze Menschen und People of Color in Deutschland zu vernetzen und sichtbarer zu machen.

Zum Sprachgebrauch:

Person of Color (Plural: People of Color, abgekürzt als PoC) ist eine politische Selbstbezeichnung für Menschen, die in der Mehrheitsgesellschaft als nicht-weißangesehen werden und wegen ethnischen und/ oder rassistischen Zuschreibungen von Rassismus betroffen sind. Der Begriff wird in abgewandelter Form auch für Frauen (Women of Color, WoC), Männer (Men of Color, MoC) oder Berufsgruppen (z.B. Artists of Color) verwendet.

Schwarze Menschen ist ebenfalls eine Selbstbezeichnung und wird groß geschrieben, um zu verdeutlichen, dass es beim Schwarzsein um die Verbundenheit aufgrund gemeinsamer Rassismuserfahrungen und der Art und Weise, wie man wahrgenommen wird, geht.

Weiß und Weißsein bezeichnen ebenso wie Schwarzsein keine biologische Eigenschaft und keine reelle Hautfarbe, sondern eine politische und soziale Konstruktion. Mit Weißsein ist die dominante und privilegierte Position innerhalb des Machtverhältnisses Rassismus gemeint, die sonst zumeist unausgesprochen und unbenannt bleibt. Weißsein umfasst ein unbewusstes Selbst- und Identitätskonzept, das weiße Menschen in ihrer Selbstsicht und ihrem Verhalten prägt und sie an einen privilegierten Platz in der Gesellschaft verweist, was z.B. den Zugang zu Ressourcen betrifft.

Quelle: https://www.vogue.de/lifestyle/artikel/reprasentation-und-seelische-gesundheit-race-doesnt-exist-but-it-matters