Artikel veröffentlicht bei rechtsaussen.berlin

Kinder und Jugendliche, welche von der Mehrheitsgesellschaft der Gruppe der ndH (nicht deutsche Herkunftssprache) zugerechnet werden und als ‚nicht so wie wir‘ und/oder als ,nicht deutsch‘ markiert werden, sind oftmals in den verschiedensten Kontexten von rassistisch oder antisemitisch motivierter Diskriminierung und Gewalt betroffen. Erwachsene Männer und Frauen scheuen nicht davor zurück, am helllichten Tag aus rassistischen oder antisemitischen Motiven gegen Kinder und Jugendliche gewaltsam vorzugehen. Gleichermaßen werden Kinder und Jugendliche oft Zeug*innen von Angriffen, die ihren Familienmitgliedern oder Freunden gelten, was von den Kindern und Jugendlichen als nicht weniger belastend erlebt wird.

Insbesondere deshalb, weil sich ein Großteil dieser Taten gegen Kinder und Jugendliche in ihren alltäglichen und als sicher empfundenen Räumen ereignen, wie beispielsweise auf Spielplätzen, an Bushaltestellen oder in Kaufhäusern. Rassistisch oder antisemitisch motiviertes Mobbing (beispielsweise ausgeschlossen werden, beschimpft werden, geschlagen werden) erleben die Kinder und Jugendlichen zudem häufig in den Institutionen, in denen sie sich täglich bewegen, wie in Schulen, im Hort und in Kitas. Insbesondere im Kontext von Schule und Kita werden rassistisch motivierte Diskriminierungen und Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen jedoch oftmals nicht erkannt und als harmlose Streitereien bagatellisiert, so dass die Opfer oft über Jahre Anfeindungen, Erniedrigungen und Gewalt ausgesetzt sind und keine Hilfe erfahren. Unabhängig davon in welchen Kontexten Kinder und Jugendliche von rassistisch oder antisemitisch motivierten Diskriminierungen und Angriffen betroffen sind, so stellen sie für die Betroffenen meist einschneidende Erfahrungen dar, die ihr Grundvertrauen in die Umwelt, in die darin lebenden Menschen und in sich selbst meist grundlegend erschüttern.

Beispielsituationen aus der Chronik rechter, rassistischer und antisemitischer Angriffe auf Kinder und Jugendliche in Berlin 2018 (Quelle: Pressekonferenz ReachOut 2019):

11. September 2018, Berlin-Neukölln
Gegen 0.40 Uhr wird im Kinder- und Jugendhilfezentrum im Girlitzweg in Buckow der Vorhang in dem Zimmer eines 15-jährigen, geflüchteten Jugendlichen in Brand gesteckt. Einige Stunden vorher wurde der 15-Jährige rassistisch beleidigt und attackiert.

10. September 2018, Berlin-Neukölln
Ein 15-jähriger Jugendlicher, der in Begleitung von zwei Freunden ist, wird gegen 19.10 Uhr in der Rudower Straße in Buckow von einem unbekannten Mann rassistisch beleidigt und ihm wird eine Bierflasche in den Rücken geworfen.

26. August 2018, Berlin-Treptow
Ein 34-jähriger Mann, der gegen 18.20 Uhr in Begleitung seiner Frau und drei Kinder im Alter von 3 bis 10 Jahren in der Florian-Geyer-Straße unterwegs ist, wird von einem unbekannten Mann aus rassistischer Motivation beleidigt. Ein Zeuge greift ein, als der Unbekannte den Hund auf die Familie hetzt.

Folgen für die Betroffenen

Betrachtet man die Folgen solcher Erfahrungen, ist es sinnvoll, zunächst eine Unterscheidung zwischen einmaligen und über längere Zeit andauernden oder sich wiederholenden Erlebnissen zu treffen. Plötzliche Angriffe, wie Schläge durch einen fremden Erwachsenen auf dem Spielplatz beispielsweise, rufen meistens eine unmittelbare Erschütterung des Urvertrauens und der subjektiv erlebten Sicherheit hervor. Erleben die Betroffenen zudem, dass auch die sonst als ‚beschützend‘ erlebten Aufsichtspersonen sie nicht beschützen konnten oder noch schlimmer, selbst auch Ziele des Angriffes wurden, reagieren Kinder und Jugendliche oftmals mit einer Reihe an Symptomen, die erst einmal als normale Reaktionen auf überwältigende Umstände interpretiert werden können. In Bedrohungssituationen reagiert der menschliche Organismus mit neuronaler Erregung und der Mobilisierung des Selbstschutzsystems, welches uns dazu befähigen soll zu kämpfen oder zu fliehen. Je nach Alter der Kinder und Jugendlichen reichen die zur Verarbeitung solch überwältigender Erlebnisse zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen nicht aus, so dass die in der Bedrohungssituation entstandene neuronale (Über-) Erregung und die damit einhergehenden körperlichen Reaktionen, nicht ausreichend abgebaut werden können.

Die Auswirkungen länger andauernder und sich wiederholender Erlebnisse, wie es beispielsweise beim rassistischen und antisemitischen Mobbing in der Schule der Fall ist, lassen sich oft nicht leicht erkennen, da die Kinder und Jugendlichen oftmals Scham empfinden oder glauben das Verhalten ihnen gegenüber sei gerechtfertigt.

Der Überschuss an neuronaler Erregungsenergie kann sich, sofern er nicht durch spezifische und zielgerichtete Unterstützung z.B. durch Bezugspersonen abgebaut werden kann, zu traumatischem Stress auswachsen, welcher in einer Reihe von belastenden Symptomen und Verhaltensweisen Ausdruck finden kann. Wie sich eventuell entstandene Belastungen identifizieren und interpretieren lassen, unterscheidet sich dabei sehr im Hinblick auf das Alter der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Äußert sich traumatischer Stress beispielsweise bei Klein- und Vorschulkindern in Hyperaktivität, Wutausbrüchen, Lethargie, Regression auf frühere Entwicklungsstufen oder im ständigen Nachspielen des traumatischen Ereignisses, so lässt sich hingegen bei Jugendlichen beobachten, dass sie nach solch einschneidenden Erlebnissen oftmals eine verminderte Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit zeigen, unter depressiven oder psychosomatische Symptome leiden und vermehrt zu Verhaltensweisen wie Rückzug, Suchtmittelmissbrauch oder Aggression neigen.

Die Auswirkungen länger andauernder und sich wiederholender Erlebnisse, wie es beispielsweise beim rassistischen und antisemitischen Mobbing in der Schule der Fall ist, lassen sich oft nicht leicht erkennen, da die Kinder und Jugendlichen oftmals Scham empfinden oder glauben das Verhalten ihnen gegenüber sei gerechtfertigt. Erfahren sie zudem, dass sie sich vertrauensvoll an Aufsichtspersonen gewandt haben, diese aber ihre Schilderungen anders interpretieren oder bagatellisieren, finden viele Kinder und Jugendliche nicht den Mut, sich mit ihren Erfahrungen erneut an jemanden zu wenden. Im Beratungssetting berichteten die Betroffenen beispielsweise davon, dass sogar manchmal eine Opferumkehr stattgefunden habe, indem gegen sie der Vorwurf erhoben worden sei, durch ihre Verhaltensweisen selbst solche Handlungen provoziert zu haben. Dabei verstärkt besonders die nicht erfahrene Unterstützung die Gefühle der Existenzbedrohung, welche durch Gefühle der Hilflosigkeit, des Entsetzens und oftmals auch der (Todes-)Angst begleitet werden. Schulunlust, Schulangst, aggressives Verhalten und depressive Symptome wurden als Folgen solcher Situationen durch die Betroffenen oder durch die Eltern der Betroffenen beschrieben.

Was kann betroffenen Kindern und Jugendlichen helfen?

Zunächst ist es wichtig anzuerkennen, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen Erfahrungen machen mussten, die nicht akzeptabel sind und die transparent und ihren Motiven nach beim Namen genannt werden müssen. Im Rahmen der Psychoedukation, in welcher den Angehörigen und den Betroffenen erklärt wird, wie der psychische Apparat auf belastende Ereignisse reagiert, ist es besonders wichtig zu betonen und anzuerkennen, dass ihr nach so einschneidenden Erfahrungen gezeigtes Verhalten und die Palette ihrer Gefühlsreaktionen eine normale Reaktion auf ein oder mehrere unnormale Ereignisse darstellt. Dabei ist es eine grundlegende Voraussetzung für eine alters- und bedürfnisorientierte Beratung zu eruieren, wie sich Belastungen bei dem betreffenden Kind oder dem/der Jugendlichen überhaupt äußern. Dabei sind vor allem die Verhaltensbeobachtungen nahestehender Personen von Bedeutung, aber je nach Alter und Ausdrucksmöglichkeiten können und sollten die Kinder und Jugendlichen selbst Raum finden ihre Gefühle zu beschreiben. Wie eine konkrete bedürfnisorientierte Unterstützung der Kinder und Jugendlichen konkret ausgestaltet werden kann, ist sehr vom Alter und der kognitiven Entwicklung abhängig. Vereinfacht gesagt geht es aber vornehmlich darum, mittels Informationsvermittlung und konkreter Interventionen wieder Ruhe ins System zu bringen. Das neuronale Erregungslevel muss runter fahren, das heißt Körper und Psyche müssen wieder das Vertrauen darin zurück gewinnen, dass der/die Betroffene wieder in Sicherheit ist. Eltern können ihre Kinder unterstützen, indem sie die seit dem Ereignis auftretenden Verhaltensveränderung erst einmal annehmen und den Blick darauf richten, dem Kind oder Jugendlichen Sicherheit zu vermitteln. Neben körperlicher Zuwendung, erklärenden und stärkenden Gesprächen, auch mittels altersangemessener Literatur zu den Themen Identität, Rassismus, Mobbing etc., kann das auch bedeuten, das Kind dazu zu ermutigen, gemeinsam eine Beratungsstelle wie beispielsweise KiDs („Kinder vor Diskriminierung schützen!“), OPRA, EOTO und/oder ReachOut aufzusuchen. Mittlerweile gibt es auch durch verschiedene Träger explizit für betroffene Kinder und Jugendliche entwickelte Workshops, in welchen sich (potentiell) betroffene Kinder und Jugendliche miteinander vernetzen und unter Anleitung gemeinsam Handlungsoptionen ausarbeiten. So hat ReachOut beispielsweise, gemeinsam mit KiDs und OPRA, schon seit 2017 eine Reihe an Workshops für betroffene Kinder- und Jugendliche und im Anschluss für deren Eltern konzipiert, welche durch die Teilnehmer*innen als sehr unterstützend erlebt wurden. Durch eine starke Vernetzung in den sozialen Medien, gibt es mittlerweile auch eine Reihe an Onlinegruppen, in welchen sich Betroffene und deren Angehörige austauschen und stärken.

Fanden die Erlebnisse im institutionellen Kontext wie etwa Schule, Kita oder Verein statt, ist es für die Betroffenen essentiell auch bezüglich der rassistischen oder antisemitischen Diskriminierungen, die sie erleben mussten, ernst genommen werden. Ein Sicherheits- bzw. Schutzkonzept, das sich daraus ableitet, müssen die Betroffenen nachvollziehen und verstehen können. Es geht darum, ihr Gefühl von Sicherheit zurück zu bekommen. Insbesondere einem einfühlsamen Umgang der Lehrkräfte als primäre Bindungspersonen im schulischen Alltag kommt eine besondere Funktion zu. Solidarität und Anerkennung durch die Lehrkräfte und ein altersgerechtes Einbeziehen und Mitwirken der Betroffenen als auch der Gruppe (Klasse, Verein), in welcher solche Erfahrungen gemacht wurden, ist für die Betroffenen oftmals ein wichtiger Faktor, um das Gefühl der Hilflosigkeit zu schmälern und das Gefühl der Selbstwirksamkeit zu erhöhen.

Eine der Fragen, die uns als Beratungsstelle immer wieder gestellt wird, ist, was das Wichtigste sei im Umgang mit Betroffenen. Die Antwort fällt meist simpel aus, auch wenn dahinter eine riesige Dimension zu stecken scheint: Wenn man sich den Betroffenen mit einem offenen Ohr zuwendet und sich nicht automatisch durch Schuldgefühle und Ängste in eine Abwehrhaltung begibt, ist schon sehr viel geholfen und erreicht!


Das Projekt OPRA (Psychologische Beratung für Opfer rechter, rassistischer & antisemitischer Gewalt) berät als psychologische Opferberatungsstelle seit dem Jahre 2003 unter der Trägerschaft von ARIBA e.V. Opfer von rassistisch, rechts und antisemitisch motivierten Straftaten, sowie deren Angehörige. Ziel ist es, eine niedrigschwellige, psychologisch fundierte, kurz- und mittelfristige als auch traumazentrierte Opferberatung für die genannten Opfergruppen anzubieten. Es geht darum, der Entwicklung und Aufrechterhaltung psychischer Langzeitfolgen aufgrund derartiger Gewalttaten entgegen zu wirken.

Quelle: https://rechtsaussen.berlin/2019/07/rassismus-gegen-kinder-und-jugendliche-eine-analyse-aus-psychologischer-sicht/