Rassismus gehört leider auch in frühpädagogischen Einrichtungen zur Realität ■ Im nachfolgenden Interview mit Sandra Richter der Fachstelle Kinderwelten berichtet Diplom-Psychologin, Beraterin und Thera- peutin Stephanie Cuff-Schöttle aus ihrer Berufspraxis; beschreibt die Auswirkungen, die Rassismus auf junge Menschen hat; verdeutlicht die Aufgaben pädagogischer Fachkräfte bei der Gestaltung einer rassismuskriti- schen Praxis und benennt Unterstützungsstrategien und -angebote für Menschen mit Rassismuserfahrungen.

}y Noch immer wird häufig behaup- tet, dass Rassismus in pädagogischen Einrichtungen keine Rolle spielt – welche Erfahrungen machen Sie in Ihrer Praxis?

Im Rahmen der Fachtagung »Baustelle Inklusion 2019«, organisiert durch die Fachstelle Kinderwelten, führten meine Kollegin Sanchita Basu von ReachOut und ich Mitte letzten Jahres einen Work- shop zu genau diesem Thema durch. Die Frage, ob und inwiefern Rassismus eine

56 Rolle in pädagogischen Einrichtungen, sogar schon im Kita-Alltag der jüngsten Kinder, spielt, war dabei das tragende Element. Wir zeigten in diesem Rahmen auf, dass es eine ganze Reihe an Experi- menten und Studien1 gibt, welche ein- deutig belegen, dass schon Kinder im Alter von 3 bis 4 Jahren nicht nur Unter- schiede zwischen Menschen (z.B. unter- schiedliche Hauttöne etc.) wahrnehmen, sondern auch schon genügend an die äu- ßere Realität angepasst sind, um die real existierenden gesellschaftlichen Vorurtei- le und Stereotype bestimmten Personen- gruppen gegenüber zu erkennen, diese zu verinnerlichen und in ihre eigenen Denk- und Handlungsweisen zu integ-

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Stephanie Cuff-Schöttle

Diplom-Psychologin, systemisch-integrative Familien- & Paartherapeutin; Psychotherapie n.d. HPG, rassismussensible Therapie und Beratung; www.stephaniecuff.com, www.myurbanology.de

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rieren. Dazu haben wir auch das Modell des »inneren Rassismus«, entwickelt durch den Psychoanalytiker Fakhry Davids, vorgestellt, welches aus entwicklungspsy- chologischer Perspektive aufzeigt, inwie- fern sich eine innere rassistische Abwehr schon ab der frühen Kindheit etabliert. Für mich decken sich diese empirischen Ergebnisse mit den Erfahrungen aus mei- ner Praxis. Kinder, die durch die Domi- nanzgesellschaft anhand ihrer äußeren Merkmale, ihrer Religionszugehörigkeit usw. bewusst oder unbewusst als »nicht so wie wir« und als »nicht-deutsch« ein- geordnet werden, machen im Rahmen ihrer Kita- und Schullaufbahn meist un- zählige belastende Erfahrungen sowohl durch andere Kinder, als auch durch Pädagog*innen. Dabei ist es zu kurz ge- fasst, die Fülle derartiger Erfahrungen nur als Individualerfahrungen zu verste- hen, vielmehr müssen solche Erlebnisse als Kollektiverfahrungen von Kindern

of Colour und Schwarzen Kindern ein- geordnet werden. Auch Beratungsstellen, wie bspw. KiDs-Kinder vor Diskriminie- rung schützen, ReachOut, OPRA und an- dere, die für Betroffene Unterstützung anbieten, erhalten diesbezüglich unzähli- ge Beratungsanfragen und Erfahrungsbe- richte durch Eltern, Kinder und weitere erwachsene Personen, die von ihren Er- fahrungen berichten. Das von den Be- troffenen berichtete Erfahrungsspektrum reicht dabei von der alltäglichen Überbe- tonung ihres angeblichen »Anders- oder Fremdseins« und dem Überschreiten ihrer individuellen Grenzen über akti- ve Ausschlusspraktiken und rassistische Beleidigungen bis hin zu Gewalterfah- rungen. Vor allem im institutionellen Rahmen begleiten solche Erfahrungen die Eltern und Kinder meist über einen langanhaltenden Zeitraum. Zur Sprache gebrachte rassistische Diskriminierun- gen werden leider oftmals bagatellisiert

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Abb. 1: Es ist bedeutsam, dass Fachkräfte von Rassismus betroffene Kinder mit ihren Erfahrungen und Gefühlen ernstnehmen. KiTa aktuell spezial 2 | 2020

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Abb. 2: Rassistische Diskriminierungen werden leider oftmals bagatellisiert und als kindliche Streitereien abgetan.

heit im Vergleich zu weißen gleichaltrigen Kindern als niedriger einschätzen und sich im Zuge dieser Erfahrungen oftmals ange- spannt, hoffnungs- und machtlos fühlen. Dies führt den Ergebnissen nach einerseits zu vermehrten Rückzugs- und Vermei- dungsverhalten der Kinder und Jugend- lichen, oder fördert das gegenteilige Ver- halten, welches in Wut, Aggressionen und risikobereiterem Verhalten zum Ausdruck kommen kann. Eine Vielzahl der belegten Auswirkungen auf die psychische als auch physische Gesundheit decken sich mit den Schilderungen der Betroffenen, die ich im Rahmen meiner Arbeitskontexte höre. Als gleichermaßen oder teilweise als noch mehr belastet erlebe ich auch die betroffe- nen Eltern, die nicht selten durch die Er- lebnisse ihrer Kinder selbst eine Art Retrau- matisierung erleben, wenn auch sie (früher) von rassistischer Diskriminierung bis hin zur Gewalt betroffen waren. Schuldgefüh- le, ihre Kinder nicht ausreichend schützen zu können, Unsicherheit über die eigene Wahrnehmung von Situationen, Hilflosig- keit und Ohnmachtsgefühle sind häufig die Folge. Natürlich gibt es auch Eltern und Kinder, die sehr resilient sind, sich deutlich weniger belastet fühlen und keine Symptome entwickeln. Dennoch darf aus meiner Perspektive das Extra an aufgewen- deter Energie, um Anpassungs- und Über- lebensstrategien in solchen Kontexten zu entwickeln, nicht aus dem Blick geraten.

}y Was sind die Aufgaben pädago- gischer Fachkräfte bei der Gestaltung einer rassismuskritischen Praxis?

Die Entwicklung einer rassismuskriti- schen Praxis muss als ein fortlaufender Prozess auf mehreren Ebenen betrachtet werden. Studienergebnisse zeigen auf, dass die Benachteiligung von Schwarzen Kin- dern und Kindern of Colour im Bildungs- system, neben den Erfahrungen mit alltäg- lichem Rassismus, insbesondere aufgrund von institutionellem Rassismus besteht. Das bedeutet, dass schon die in der Organi- sation verankerte Struktur, grundlegende Haltungen und Wertvorstellungen und die daraus resultierende Handlungsma- xime oftmals ausschließend wirken. Dies beinhaltet meines Erachtens auch den rassismuskritischen Blick auf das eigene Personalauswahlverfahren in Bezug auf Repräsentation zu richten und zu reflek- tieren, ob und inwieweit auch Kolleg*in- nen im eigenen Team durch die beschrie-

und als kindliche Streitereien abgetan – die ersehnte Unterstützung bleibt somit häufig aus. Nicht selten kommt es zur Opfer-Täter-Umkehr, was das Gefühl von Hilflosigkeit der Betroffenen oft massiv verstärkt. Schwarzen Kindern und Kin- dern of Colour werden meiner Erfah- rung nach bei Gegenwehr, aber auch bei oftmals gleichem Verhalten, negativere Motive und mehr Aggressionspotential unterstellt, als dies gegenüber weißen Kindern im selben Kontext der Fall ist.

Mir ist es in Bezug auf dieses Thema aber auch immer ein großes Anliegen, etwas auszuholen und die Frage um die Perspektive zu erweitern, welche Rolle Ras- sismus eigentlich insgesamt im Alltag von Kita- und Schulkindern und deren Eltern spielt. Pädagogische Einrichtungen sind ein sehr prägender, gleichzeitig aber »nur« ein weiterer Raum, in welchem besagte Kinder und Jugendliche derartige Erfah- rungen machen. Im Zuge meiner Arbeit bei OPRA habe ich letztes Jahr einen Ar- tikel verfasst,2 in dem ich davon berichte, dass Kinder und Jugendliche auch im öf- fentlichen Raum, in ihren alltäglichen und als sicher empfundenen Umgebungen, wie bspw. auf Spielplätzen, an Bushalte- stellen oder in Kaufhäusern zunehmend rassistisch motivierten Angriffen ausgesetzt sind oder diese oftmals als Zeug*innen bei ihren Angehörigen oder Freund*innen miterleben. Auf den ersten Blick scheint dies zwar weniger dramatisch, aber kumu- liert gleichermaßen belastend, sind besag- te Kinder und deren Bezugspersonen in vielerlei Kontexten von Alltagsrassismus in Form rassistischer Mikroaggressionen3 betroffen. Wollen wir uns mit dem Bedarf

nach einer rassismuskritischen Qualitäts- entwicklung und den Auswirkungen der gemachten Erfahrungen in pädagogischen Einrichtungen auf diese sehr widerstands- fähige, aber auch sehr vulnerable Gruppe von betroffenen Eltern und deren Kindern auseinandersetzen, müssen potentielle Be- lastungen in den verschiedensten Kontex- ten mitgedacht, anerkannt und im Um- gang mit beschriebenen Situationen mit in Rechnung genommen werden.

}y Welche Auswirkungen hat Rassis- mus auf junge Menschen?
Ein Blick auf die mittlerweile umfassende

internationale Forschungsliteratur zeigt unumstritten, dass rassistische Diskrimi- nierung als deutlicher Risikofaktor für die Gesundheit von Schwarzen Kindern und Kindern of Colour betrachtet werden kann. So zeigt bspw. schon die Forschungs- gruppe um Sanders-Philips aus dem Jahre 2009 auf, dass erlebte Rassismuserfahrun- gen das Stressniveau und somit den Korti- solspiegel derart anheben können, dass so- wohl kurz- als auch langfristige Beeinträch- tigungen auf das Herz-Kreislaufsystem und das Immunsystem entstehen können. Dass durch derartige Erfahrungen hervor- gerufenen Stressreaktionen auch die Ent- stehung von Depressionen, Angststörun- gen und psychosomatischen Störungen bei Schwarzen Menschen und People of Co- lour begünstigen, wurde ebenfalls zahlreich belegt. Es gibt eine Reihe weiterer großer Überblicksarbeiten, welche zudem auf- zeigen, dass sich von Rassismus betroffene Kinder und Jugendliche deutlich häufiger als wenig selbstwirksam erleben, weniger selbstbewusst sind, ihre Lebenszufrieden-

INTERVIEW // RASSISMUS IN DER KITA Q}

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#PP INTERVIEW // RASSISMUS IN DER KITA

benen Strukturen negativ betroffen sind. Die Bereitschaft, auf Veränderungen im pädagogischen Handeln und auf struktu- reller Ebene hinzuarbeiten, sollte deshalb als erster entscheidender Schritt durch die Inanspruchnahme professioneller Qualifi- zierungsmaßnahmen erfolgen.

Gelingt es den Handlungsakteur*in- nen der Einrichtungen, ein breites Ver- ständnis für die verschiedenen Erschei- nungsformen von Diskriminierungen und Rassismus und deren Auswirkun- gen auf Betroffene – unter Anbetracht der verschiedenen Lebensrealitäten von Bezugspersonen und Kindern – zu ent- wickeln, ist ein wichtiges Fundament dafür gelegt, Rassismus weniger als Indi- vidualerfahrung, als vielmehr im Kontext historischer und gesamtgesellschaftlicher Strukturen zu verstehen. Bestenfalls ent- steht dadurch die dringend notwendige Offenheit, eine rassismussensible und an- nehmende Gesprächs- und Beteiligungs- kultur zu etablieren, welche die Erfah- rungen und Perspektiven von betroffenen Eltern und Kindern als Ressourcen wahr- nimmt und diese nicht aus Angst, Schuld oder anderen Motiven heraus abwehren und negieren muss. Eine vertrauensvolle Basis, in welcher sich betroffene Familien und Kinder äußern und beteiligen kön- nen, setzt voraus, dass die Einrichtung und die handelnden Akteur*innen im Falle konkreter Anlässe bereit sind, un- aufgeregt aber bestimmt zu reagieren, um sicherheitsstiftende Maßnahmen zur Ver- meidung weiterer Vorfälle umzusetzen.

}y An wen kann ich mich wenden, wenn ich Rassismus in Kitas erlebe und mir Unterstützung wünsche?
Sind Kinder im Kita-Alltag von Rassis- mus betroffen, ist es besonders wichtig, einfühlsam auf das Kind und ggf. auf die besorgten Bezugspersonen einzugehen

und seine*ihre gemachten Erfahrungen anzuerkennen und die eigenen Reak- tionen darauf zu normalisieren – unab- hängig davon, ob schon ein Schutzkon- zept erarbeitet wurde oder das Gefühl der Hilflosigkeit noch im Raum steht. Denn vor allem die von außen erlebte Invalidierung4 der eigenen Wahrneh- mung und die fehlende Unterstützung der Pädagog*innen als primäre Bezugs- personen im Kita-Alltag haben einen großen Einfluss darauf, wie belastend das Kind derartige Erfahrungen erlebt. Um sich als Kinder, Eltern und als Pä- dagog*innen bei der Lösungssuche und/

oder Ver- und
fahrungen im
zen zu lassen,
Einrichtungen
kostenlos und
anonym Beratung anbieten. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit möch- te ich in dem Zusammenhang auf die Beratungsstellen KIDs-Kinder vor Dis- kriminierung schützen5 (Fachstelle Kinderwelten), OPRA (Psychologische Beratungsstelle für Opfer rechtsextre- mer, rassistischer und antisemitischer Gewalt),6 ReachOut (Opferberatung und Bildung gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus)7 und EOTO (Antidiskriminierungsberatung für Schwarze, Afrikanische und Afrodia- sporische Menschen in Berlin)8 verwei- sen, die sich auf vielerlei Ebenen unter- stützend und parteilich einbringen.

Quelle: https://www.eltern-helfen-eltern.org/service/KiTa-Spezial-Rassismus-190620.pdf